Kritische Bemerkungen zu "tertium datur" von Klaus Heinrich
Diese Kritik konzentriert sich auf einige wenige Passagen, in denen Heinrich auf die historische Rolle von Galileo Galilei und den Stellenwert des Experiments in den Naturwissenschaften eingeht.
In seinem Werk "Tertium Datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik" (eine Vorlesung von 1970) präsentiert Klaus Heinrich eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit philosophischen Grundfragen der Logik. Doch auch ein so inspiriertes Werk ist nicht frei von Schwächen, insbesondere, wenn es sich auf naturwissenschaftliche Themen bezieht. Meine Kritik konzentriert sich auf einige wenige Passagen, in denen Heinrich auf die historische Rolle von Galileo Galilei und den Stellenwert des Experiments bzw. der Einzelbeobachtung in den Naturwissenschaften eingeht. Sie zeigen, dass Heinrich, so kenntnisreich und reflektiert er auch philosophiert, in diesen spezifischen Fragen nur über geringe wissenschaftshistorische Kenntnisse verfügt.
In seinem Buch, insbesondere ab Seite 95, behauptet Heinrich, die Induktionslogik in der modernen Naturwissenschaft sei (im Wesentlichen?) neu, und dies unterscheide sie von der vormodernen. Doch wird das nicht wirklich begründet, denn Heinrich bringt nur Beispiele aus der modernen Naturwissenschaft (ab Galilei), über die vormoderne verliert er kein Wort. Offensichtlich hätte er zum Beleg aber die moderne mit der vormodernen Wissenschaft vergleichen müssen. Dabei sind Sätze der aristotelischen Physik, wie der, dass eine Bewegung (die er "erzwungene" nennt) stets einen Beweger brauche, dagegen "natürliche" Bewegungen (Fixsterne, Planeten) ewig seien, sichtlich aus der Erfahrung abgeleitet, also induktiv gewonnen. Und umgekehrt sind grundlegende Sätze der modernen Physik wie der Trägheitssatz keineswegs induktiv gewonnen (siehe C. P. Ortlieb).
Natürlich gibt es Experimente, Beobachtungen und induktive Logik in der modernen Naturwissenschaft, und sie spielen auch eine große Rolle. Es geht mir natürlich nicht darum, dies zu bestreiten. Vielmehr geht es darum, dass Heinrich seine These nicht belegt hat und dass es fragwürdig erscheint, Induktionslogik als Spezifikum der modernen Naturwissenschaft zu betrachten (siehe obige Bemerkung zu Aristoteles).
Auf Seite 117 lesen wir:
... das Allgemeine ziehen konnte; Induktion sollte ja zuletzt aus einer Reihe von Einzelnen heraus allgemeine Aussagen möglich machen.
Hier spricht er noch völlig richtig von "einer Reihe von Einzelnen" (von Experimenten bzw. Beobachtungen). Leider vergisst er das später wieder. Doch betrachten wir zunächst dieses Zitat:
... oder Galilei, der seine Kugeln die schiefe Ebene entlangrollen ließ und der etwas von einem Turm fallen ließ und auf diese Weise Einsicht (in die Himmelsmechanik zuletzt) gewann ...
(S. 117)
Das schmerzt. So etwas kann nur äußern, wer von der Physik und deren Geschichte nicht mehr als Kolportagen kennt. Ja, die Experimente mit der schiefen Ebene hat Galilei wohl wirklich ausgeführt. Aber der Rest ist Unfug: der darauffolgende Teilsatz "der etwas [sic] von einem Turm fallen ließ" bezieht sich sichtlich auf die Legende, Galilei habe Kugeln vom schiefen Turm von Pisa geworfen, um damit zu demonstrieren, dass alle Körper gleich schnell fallen. Allein, das ist eine Legende, die der Galilei-Biograph Viviani Jahre nach dessen Tod in die Welt gesetzt hat. Dieser Umstand wiederum war 1970 auch schon seit Jahrzehnten bekannt, der Aufsatz "Galilée et l'expérience de la Tour de Pise" von Alexandre Koyré, in dem er dieses Märchen entlarvt, stammt von 1937. Näheres siehe Ortlieb oder Koyré.
Interessant für eine kritische Betrachtung wäre daher gewesen, warum sich diese Legende so lange hält. Doch da Heinrich dem "Mythos des Empirismus" (Ortlieb) hier in gewissem Sinne selbst aufsitzt, kann er die Problematik gar nicht erst erkennen.
Gehen wir zum nächsten Teilsatz: "und auf diese Weise Einsicht (in die Himmelsmechanik zuletzt) gewann". Bloß hatte Galilei in diesem Sinn gar keine Einsicht in die Himmelsmechanik, die hatte erst Newton, und der hatte sie nicht aus Experimenten.
Galilei hatte keine Theorie der Gravitation - und somit auch kein physikalisches Verständnis der Himmlesmechanik -, und was er aus seinen Experimenten mit der schiefen Ebene schloss, war, dass die zurückgelegten Strecken eines fallenden Körpers proportional zu den Fallzeiten sind, also s/t²=const. Aber s/t² ist die Beschleunigung, und die wäre dann konstant – also keine Abnahme der Gravitation. Tatsächlich nimmt die Gravitation aber im Quadrat zur Entfernung ab, und mit einer konstanten, überall gleichen Gravitation bekommt man natürlich keine Himmelsmechanik.
Ausgerechnet das, was Galilei so tat, wie Heinrich es will, hätte ihm also das Verständnis der Himmelsmechanik verwehrt, sollte Galilei etwas in dieser Richtung überhaupt erwogen haben. Dass Galilei keine Abnahme der Gravitation in seinen Messungen feststellen konnte, sollte nicht verwundern: Selbst in 10 km Höhe hat die Gravitation erst um 0,3 % abgenommen, und kilometerhohe Türme hat Galilei ganz bestimmt nicht gebaut.
Newtons Verständnis der Himmelsmechanik wiederum beruhte nicht auf Experimenten, die von ihm entwickelte Theorie basierte im Wesentlichen auf Hypothesen und Mathematik. Seine Hypothesen konnten erst nachträglich empirisch verifiziert werden, so etwa die allgemeine Massenanziehung; diese konnte erst ab Ende des 18. Jahrhunderts mit Torsionswaagen nachgewiesen werden. Zu Newtons Zeiten war die einzige einer Messung zugängliche Gravitation die der Erde.
Auf Seite Seite 156 lesen wir:
... für eine - ja, sagen wir: Beweislast einem einzigen weiteren Einzelnen aufladen kann. Wenn eine solche Hypothesenbildung gemacht wird, dann kann zugleich mit ihr die Bedingung für ein sogenanntes experimentum crucis formuliert werden, und eine einzelne Beobachtung, eine einzige Beobachtung, ...
Was er auf Seite 117 noch wußte, dass nämlich "aus einer Reihe von Einzelnen heraus allgemeine Aussagen" geschlossen werden, hat er hier komplett vergessen, und betont noch eigens "eine einzige Beobachtung". Nein, eine "einzige Beobachtung" wäre in der Naturwissenschaft niemals beweiskräftig: Zufälle, Messfehler oder äußere Einflüsse, aber auch Voreingenommenheit des Forschers können zu einem fehlerhaften Resultat führen (es will scheinen, dass die positivistischen Naturwissenschaftler gegenüber ihrer Methode kritischer sind als der Kritiker Heinrich). Daher braucht man in der Naturwissenschaft einen reproduzierbaren Effekt. Die Notwendigkeit wiederholter Beobachtungen oder Experimente wurde auch schon von Bacon, Boyle, Newton und Hume erkannt.
Dass der Begriff des "experimentum crucis" schon in den 1960er Jahren in der Kritik stand, sei hier nur am Rande vermerkt.
In der Geschichte der Relativitätstheorie hat es eine der spektakulärsten Auswirkungen dieser theoretischen Grundsatzentscheidung gegeben.
Hier hätte er ja dazusagen können, was gemeint ist. Vermutlich meint er das Michelson-Morley-Experiment (das natürlich viele Male ausgeführt wurde). Es wurde entwickelt, um die Existenz des "Äthers" nachzuweisen, eines hypothetischen Mediums, das für die Ausbreitung des Lichts verantwortlich sein sollte. Dieser Nachweis sollte durch Messung des “Ätherwindes“ erfolgen:
Der Ätherwind war dann sozusagen der „Fahrtwind“, den man messen können müsste, wenn sich die Erde durch diesen Äther bewegt.
(https://www.rhetos.de/html/lex/aetherwind.htm)
Bekanntlich wurde kein Ätherwind festgestellt. Von allen allgemeinen Gründen abgesehen, hätte man gerade dieses auch aus folgendem Grund nicht bloß einmal ausführen dürfen: hätte man das Experiment nur ein einziges Mal durchgeführt, so wäre durchaus die Interpretation möglich gewesen, dass die Erde relativ zum Äther gerade "in Ruhe" gewesen wäre, ähnlich wie bei einem Auto, das gerade mit der gleichen Geschwindigkeit und in der gleichen Richtung wie ein gerade wehender Wind fährt, kein Fahrtwind feststellbar wäre. Die wiederholte Durchführung des Experiments zu verschiedenen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen zeigte jedoch immer wieder das gleiche Ergebnis – kein Ätherwind.
Zudem mussten dann noch weitere Hypothesen, etwa die der "Mitführung des Äthers", untersucht werden, wozu neben theoretischen Überlegungen auch weitere Experimente notwendig waren. Alle diese Hypothesen erwiesen sich als unzutreffend, und erst dann konnte die klassische(!) Äthertheorie als widerlegt gelten.
Es gab dann aber noch die Lorentzsche Äthertheorie (oder auch Lorentz-Poincaré-Äthertheorie). Diese wurde jedoch nicht durch Experimente widerlegt, da sie dieselben Vorhersagen machte wie Einsteins spezielle Relativitätstheorie, somit ist eine empirische Unterscheidung zwischen beiden prinzipiell unmöglich. Dass man sich letztlich dafür entschied, die Relativitätstheorie und nicht die Lorentzsche Äthertheorie als zutreffend zu betrachten, war Ergebnis einer erkenntnistheoretischen Diskussion (siehe wikipedia, vgl. auch Cassirer).
Es ist somit klar, dass Heinrichs Behauptung, man habe die “Beweislast einem einzigen weiteren Einzelnen” aufgeladen, “eine einzelne Beobachtung, eine einzige Beobachtung” sie die Bedingung, um die Entscheidung zwischen Äthertheorie und Relativitätstheorie zu treffen, völlig falsch ist. Dass in den populären Darstellungen meistens nur das Michelson-Morley-Experiment genannt wird, gelegentlich auch noch Hypothesen wie die"Mitführung des Äthers", aber fast nie die erkenntnistheoretische Debatte Lorentzsche Äthertheorie vs. Relativitätstheorie, dürfte dem schon erwähnten "Mythos des Empirismus" geschuldet sein. Auch Heinrich ist dies vollständig entgangen.
Die Rolle der Induktion erscheint daher bei Heinrich massiv überbewertet, so wichtig sie auch in der modernen Naturwissenschaft ist.
Literatur
Cassirer, Ernst: "Zur modernen Physik", Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1987
Heinrich, Klaus: "tertium datur", ca ira, 2021
Koyré, Alexandre: "Leonardo, Galilei, Pascal", Fischer 1998
Ortlieb, Claus Peter: "„Wesen der Wirklichkeit“ oder „Mathematikwahn“?", www.math.uni-hamburg.de/en/personen/ortlieb/ortlieb-mathewahn-Internet.pdf
Siehe auch: